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Li Ai
Vee Bambus im Wind
In
Li Ai Vee, der begnadeten Malerin und Zen-Buddhistin, lernen wir eine
Jahrhundertzeugin kennen, die uns zum Nachdenken ¨¹ber Ost und West und
¨¹ber den Sinn des Lebens einlädt. Ihr dreifacher Weg zur Malerei hat
sie von China nach Japan und in die Schweiz gef¨¹hrt. In ihrer
Autobiographie beschreibt sie indessen nicht nur ihre k¨¹nstlerische und
geistige Entwicklung, sie beschwört zugleich die tragische Geschichte des
modernen China herauf, die sie am eigenen Schicksal und dem ihrer grossen
Familie erlebt hat. In ihrer persönlichen Bilanz dieses Jahrhunderts
fehlen die Schatten menschlicher Existenz keineswegs, doch dominiert am
Ende der Glaube an den Frieden und an die Liebe - eine Botschaft, die auch
in den 24 farbigen Bildern der K¨¹nstlerin offenbar wird.
Über
die Autorin: Li Ai Vee, geboren 1932 als Tochter eines
chinesischen Industriellen und einer jungen Deutschen, die sich während
der Studienzeit in Berlin kennengelernt hatten. Die begabte Sch¨¹lerin der
Kaiser-Wilhelm-Schule in Shanghai genoss den Unterricht von prominenten
chinesischen Malern, wie Zhang Daqian und Lin Fengmian, die schon fr¨¹h ihr
ausserordentliches Talent entdeckten. In Japan wurde der Zen-Buddhismus
zum prägenden Erlebnis. Das Oberhaupt des Rinzai-Zen, Kansho Mumon Yamada
hat sie in den engsten Kreis der Eingeweihten aufgenommen. 1954 erhielt
sie den ehrenvollen Auftrag, die Schiebet¨¹ren des Hiroshima-Tempels mit
Bambusmotiven auszugestalten. Seit 1973 lebt sie mit ihrem Schweizer
Ehemann Edo Kreis in Blonay. Die zauberhafte Lage des Chalets Yu-Lan mit
Blick auf den Genfersee und die Berge ist f¨¹r sie eine unerschöpfliche
Quelle der Inspiration. Durch Ausstellungen in den grossen Weltstädten und
in renommierten Galerien wächst die Zahl der Li Ai Vee-Freunde zusehends.
In der legendären Sammlung Dr. Drenowatz im Rietberg-Museum (Z¨¹rich)
zeugen vier Bilder der K¨¹nstlerin f¨¹r ihren Rang innerhalb der
traditionellen chinesischen
Malerei.
Leseprobe: Geboren mit einer
Gl¨¹ckshaube Als viertes und letztes Kind Tsu-Hs¨¹ns und Ellens
erblickte ich im Januar 1932 das Licht der Welt. Ich war mit einer so
genannten Gl¨¹ckshaube auf die Welt gekommen, und der deutsche
Volksglaube will es, dass diese Kinder ihrer Umgebung und Familie Gl¨¹ck
bringen werden. Meine Eltern nannten mich Evi. Die chinesischen
Schriftzeichen daf¨¹r bedeuten Liebe zur Tugend oder auch Liebe
und Tugend. Nach dem chinesischen Kalender kam ich im Jahr des
Schafes am dreiundzwanzigsten Tag des zwölften Mondes auf die Welt. Da man
in China die neun Monate eines Menschenlebens im Mutterschoss auch rechnet
und ein Neugeborenes bereits ein Jahr zählt, ein jeder aber mit
Jahresbeginn wieder um ein Jahr älter wird, war ich eine Woche nach meiner
Geburt schon zweijährig. Mein guter Appetit und meine Freude am Essen
wurden der Tatsache zugeschrieben, da ich am Geburtstag des K¨¹chengottes
geboren war. Mama, die f¨¹r alle chinesischen Bräuche grosses Interesse
hatte, befolgte die meisten traditionsgemäss. Eine Vorliebe empfand sie
f¨¹r den Reichtumsgott, den Sä Sen Bussa. Am Abend vor seinem Fest
wurden in unserem Esszimmer feine Speisen, Gl¨¹ckssymbole, S¨¹ssigkeiten und
Spirituosen aufgetischt. Fasziniert bestaunten wir Kinder die
Vorbereitungen und glaubten, die Präsenz eines ¨¹berirdischen Wesens zu
ahnen. Nachdem die Kerzen und Weihrauchstäbchen brannten, hiess Mama uns
den Kotau verrichten. Fast verstohlen kamen danach auch unsere Diener
herein, um sich ebenfalls ehrf¨¹rchtig vor dem Altar zu verbeugen. Am
folgenden Tag schauten meine Schwester und ich erwartungsvoll ins
Esszimmer, aber alles schien unberöhrt. "Mama, war der Reichtumsgott denn
wirklich da?" fragte ich zweifelnd. "Aber nat¨¹rlich! Ein Geistwesen isst
und trinkt selbstverständlich nicht wie wir gewöhnliche Sterbliche. Sä
Sen Bussa braucht lediglich den Duft der Speisen einzuatmen, um unsere
Opfergaben zu empfangen."
Chu Hsiao - Das Rascheln des Bambus im
Wind In chinesischen Kreisen war Professor Lo I-Fee (Lu Yifei)
damals bereits ein bekannter K¨¹nstler, der die klassische Maltechnik gut
meisterte und sich besonders auf Blumen, Vögel und Insekten spezialisiert
hatte. Schon in der ersten Stunde merkte der Lehrer meine Begabung und
erklärte ¨¹berrascht: "Einer Sch¨¹lerin wie Ihnen begegne ich zum ersten Mal
in meiner zwanzigjährigen Karriere als Lehrer. Bestimmt waren Sie bereits
ein Maler oder eine Malerin in einem fr¨¹heren Leben. Ein ber¨¹hmter
Bambusmaler m¨¹ssen Sie gewesen sein! Es ist sonst ausgeschlossen, gerade
dieses schwierige Motiv auf so wundervolle Weise zu erfassen." Und er gab
mir den klangvollen K¨¹nstlernamen Chu Hsiao - Das Rascheln des Bambus
im Wind. Meine Malstunden mit Professor Lo I-Fee (Lu Yifei) waren
eine Art Offenbarung f¨¹r mich. Täglich nahm ich nun Pinsel und Papier zur
Hand, rieb vorsichtig die schwarze Tusche auf dem Tuschstein an und
präparierte die Pflanzen- und Mineralfarben mit Wasser. Versunken in immer
neue Kompositionen und Stimmungen, vergass ich dabei Zeit und Raum und
erwachte erst wieder in die Realität, wenn unser Diener leise an die T¨¹r
klopfte. Während des Malens fand ich immer von neuem eine Quelle der
Begl¨¹ckung und der Erf¨¹llung, obwohl der Vorgang an und f¨¹r sich eine
Herausforderung bedeutete, besonders dann, wenn ich mich an grössere
Kompositionen wagte, die mich oft tagelang im Banne hielten.
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